„The Man Who Saved the World“ : Wie ein russischer Oberst den Atomkrieg verhinderte
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Weil er den Computern misstraute, blieb uns der Dritte Weltkrieg erspart: Der dänische Dokumentarfilmer Peter Anthony erzählt die Geschichte von Stanislaw Petrow.
Man könnte die Geschichte von Stanislaw Petrow als die eines Helden erzählen. Ungefähr so: Moskau, 1983. Es ist Nacht im sowjetischen Frühwarnzentrum für Atomschläge. Militärs mit mehr oder weniger Sternen auf den Schulterklappen starren auf Monitore und prüfen Verbindungen. Alles Routine. Der diensthabende Oberst Petrow ist an diesem Abend für einen Kollegen eingesprungen, er wäre lieber zu Hause, bei seiner kranken Frau.
Plötzlich dröhnt Alarm durch die Hallen: Eine amerikanische Atomrakete nähere sich der Sowjetunion, melden die Computer. Die Satellitenbilder zeigen nichts, die Zone des mutmaßlichen Raketenstarts liegt auf der Grenze zwischen Tag und Nacht. Doch Oberst Petrow muss handeln, den widersprüchlichen Informationen zum Trotz. Folgt er dem „Protokoll“, den Handlungsvorgaben für den Fall eines feindlichen Angriffs? Petrow weiß, was daraus folgen würde. Die Sowjetunion würde atomar zurückschlagen.
Ein Alter, dessen Wut aus Schmerz kommt
Petrow zögert. Er traut dem System nicht. Er will nicht der Mann sein, der den dritten Weltkrieg auslöst, er denkt an seine Frau – und erklärt den vermeintlichen Angriff zum Fehlalarm. Auch als die Computer eine zweite Rakete, dritte, vierte, fünfte Rakete melden, behält er die Nerven, obwohl in den Augen seiner Männer die Überzeugung steht: Die Rechner haben recht. Oberst Petrow lässt sie warten, bis die erste Rakete vom Radar erfasst werden müsste. Sekunden später wäre sie eingeschlagen. Siebzehn Minuten steht die Welt auf Messers Schneide, dann geschieht – nichts. Weil es keine Raketen gab. Weil Petrow nicht dem Protokoll folgte, nicht dem System, sondern seinem Herzen, und so eine nukleare Katastrophe verhinderte. So ist es tatsächlich geschehen, am 26.September 1983 in Moskau.
Man könnte die Geschichte von Stanislaw Petrow, Jahrgang 1939, auch als die eines Säufers erzählen, der allein in seiner heruntergekommenen Wohnung in Moskau haust und jedem seinen Menschenhass entgegenschleudert, der ihm zu nahe tritt. Journalisten vor allem, die ihn befragen wollen, seit der Fehlalarm, der bis in die neunziger Jahre hinein Geheimsache blieb, öffentlich wurde. Die Geschichte Petrows könnte auch die eines Mannes sein, der seine Frau pflegte, verlor und daran verzweifelte. Die eines Sohnes, der mit seiner Mutter brach und seinen persönlichen kalten Krieg anzettelte. Die eines Gedemütigten, der keine Anerkennung für seine Heldentat erfuhr. Die eines Alten, dessen Wut aus dem Schmerz kommt, und den erst eine junge Frau, die seine Enkelin sein könnte, und von der er sagt, sie sei sein Untergang – was meistens das Gegenteil bedeutet –, ein wenig aus seinem Panzer lockt.
Jene verhängnisvolle Nacht
Petrow taugt auch als Protagonist eines Roadmovies: zorniger Russe mit Friedensbotschaften im Gepäck auf Tour durch die Vereinigten Staaten. Dort hält er eine Rede vor den UN, bekommt einen Preis in Form einer Weltkugel in die Hand gedrückt, kurvt durch die Prärie und darf die Hände Robert De Niros und Kevin Costners schütteln, seiner Helden. Matt Damon hält er für De Niros Sohn. Ruhm ist relativ. Costners Oberlippe zittert, als der Oberst a. D. darlegt, was geschehen wäre, hätte er den Atomkrieg ausgelöst: „Es gäbe nur noch Staub.“ Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Atomwaffen wieder eingesetzt würden, sagt er, und er fürchte, sie könnten Terroristen in die Hände fallen. Seine Sätze gehen in Bilder vom 11.September 2001 über und von Atombombentests, gleißendes Weiß, glühende Pilze.
Der dänische Dokumentarfilmer Peter Anthony hat sich für keine dieser Möglichkeiten entschieden, sein Bild von Stanislav Petrov zu zeichnen. Er hat alle gewählt und geschickt miteinander kombiniert. Sein Film „The Man Who Saved the World“ (Der Mann, der die Welt rettete) feierte 2014 auf dem Woodstock Film Festival Premiere; nun zeigt ihn Arte an einem Themenabend zu „Siebzig Jahre Hiroshima und Nagasaki“. Anthonys Porträt verbindet nachgestellte Spielfilmszenen, die jene verhängnisvolle Nacht und den Kalten Krieg lebendig werden lassen, mit Archivbildern und Dokumentarmaterial, das Petrow Jahrzehnte später zeigt: zu Hause, auf seiner Amerika-Reise 2006, die eine Kette von Ehrungen einleitete, und nach seiner Rückkehr.
Nicht einmal Frieden mit seiner Mutter
Wie Anthony das Vertrauen dieses Mannes gewann, der oft im unvorteilhaftesten Licht dasteht, bleibt sein Geheimnis. Es gibt keine Erklärungen aus dem Off und kein Making-of, es fehlen eingeschnittene Experten-Statements, wie sie in hiesigen Doku-Fiktionen Standard sind, es gibt überhaupt keine scharfen Trennungen zwischen dem Früher und dem Heute, zwischen dem, was war, und dem, was hätte werden können und geworden ist. Die Kamera sucht Nähe und lässt Vagheit zu. Alles ist in Petrows Kopf, legen die Bilder nahe.
Anthony versteht es, die abstrakte Vorstellung der maximalen Vernichtung – oder eher: ihre Unvorstellbarkeit – an die Verzweiflung eines Mannes zu knüpfen, der mit dem Verlust des einen Menschen, der ihm alles bedeutete, nicht fertig wird. Der es nicht einmal schafft, ein Bier am Überschäumen zu hindern. Er schreit einen Amerikaner, der eine nukleare Minuteman-Rakete auf einer Militärbasis hütete („die Sprengkraft aller im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen Bomben“) an, auch die UdSSR habe sich bloß verteidigen wollen, Schluss müsse sein mit der alten Feindschaft. Aber er selbst kann nicht einmal mit seiner Mutter Frieden schließen.
Petrow sagt, er sei kein Held. Er sei nur zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Vielleicht war es mehr Schwäche als Stärke, die ihn das Richtige tun ließ, wer vermag das zu sagen? Vielleicht sind die versöhnlichen Teile des Films weniger wahrhaftig, als sie scheinen. Groß ist die Dokumentation darin zu zeigen, dass Petrow ein Jedermann ist. Und dass in den Händen fehlbarer Menschen gigantische Zerstörungskräfte liegen. Sie zeigt aber auch, dass nur solch ein Mensch ein wildgewordenes Computersystem hat übergehen können. Darin liegt etwas zutiefst Erschreckendes und Ermutigendes.